„Jährlich werden eine halbe Million Wildfische für Versuche eingesetzt“
Dr. Stefan Hoerner vom Institut für Strömungstechnik und Thermodynamik (ISUT) der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entwickelt im interdisziplinären Verbundvorhaben RETERO-2 Simulationen und Roboterfische, um Versuche zur Ermittlung von Verletzungsrisiken an lebenden Wildfischen zu reduzieren.
Herr Dr. Hoerner, welche Ideen und Ziele verfolgen Sie im Projekt RETERO-2?
Wasserkraft, Hochwasserschutz und weitere Eingriffe des Menschen beeinträchtigen unsere Flüsse und ihre Biodiversität. Dieses Spannungsfeld wird in relevanten Bereichen, wie Energie, Bevölkerungs- und Umweltschutz, noch deutlich verschärft, da durch den Klimawandel viele Interessenskonflikte zunehmen. Insbesondere Wanderfische sind stark von diesen Eingriffen betroffen und haben ein erhöhtes Aussterberisiko. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Aal. Um über die Notwendigkeit verbesserter Schutzmaßnahmen zu entscheiden und das Verletzungs- und Sterberisiko der Tiere an technischen Anlagen zu ermitteln, sind deshalb Versuche unverzichtbar. Derzeit geschieht das mit lebenden Wildfischen. Jährlich werden hierfür EU-weit rund eine halbe Million Tiere eingesetzt. Dabei stirbt ein nicht unerheblicher Teil oder muss wegen Verletzungen getötet werden. Für alle Tiere sind die Versuche mit hohem Stress verbunden. Wir brauchen deshalb Alternativen ohne Tierversuche. Im RETERO-Projekt erforschen wir experimentelle und rechnerische Ersatzverfahren unter Nutzung von Sensoren und Simulationen.
Ihr Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Themenbereich „Alternativmethoden zum Tierversuch“ gefördert. Es ist auf den ersten Blick aber kein klassisches lebenswissenschaftliches Projekt. Können Sie uns die 3R-Relevanz Ihres Projektes erläutern?
Wir orientieren uns stark am 3R-Prinzip. Das Ziel ist es, Fischversuche komplett durch Sensoren und Simulationen zu ersetzen (Replacement). Das ist eine schwierige Aufgabe und nur langfristig zu erreichen, da das Fischverhalten eine wichtige Rolle spielt. Wir arbeiten deshalb parallel an Methoden, um die Probandenzahlen bereits jetzt zu verringern (Reduction), ohne die Aussagekraft der Versuche zu vermindern. Ein wichtiger Teil davon sind nicht-invasive miniaturisierte Biologger (Refinement), welche als Mini-Sender wie ein Rucksack getragen werden und während der Anlagenpassage Daten aufzeichnen. Unsere Sensoren schädigen die Tiere nicht und haben einen marginalen Einfluss auf ihr Verhalten. Ein zweiter Ansatzpunkt ist, den Herstellern ein gutes Designwerkzeug in die Hand zu geben, um fischverträgliche Technik zu entwickeln. Dies erlaubt bereits im Konstruktionsprozess abzuschätzen, wie hoch die Schädigungsraten der Installationen sein würden und reduziert notwendige Versuche (Reduction). In optimierten Anlagen sterben dann zusätzlich weniger Versuchstiere.
Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gesammelt?
Auf Basis der Ergebnisse unserer Verhaltensstudien, die wir ohne Fischschädigung durchführen können, erhalten wir ein besseres Verständnis dafür, was Fische in den Turbinen und Pumpen genau tun. Diese Erkenntnisse nutzen wir in Computersimulationen. Zusätzlich wurde eine Vielzahl von Sensoren entwickelt, die relevante Schädigungsparameter wie Druck und Beschleunigungen messen können. Wir arbeiten auch an einer selbstschwimmenden Sonde, einem Fischroboter, der das Verhalten der Tiere teilweise berücksichtigt und maschinell gelernt hat, effizient zu schwimmen. Die Biologger bieten uns sehr gute Daten, um Simulationen und Experimente miteinander zu vergleichen. Darüber hinaus wurde eine Apparatur zum sensorischen Messen von Kollisionen, wie z. B. durch Turbinenschaufeln, entwickelt. Diese wird eingesetzt, um Sensor- und Simulationsdaten mit Schädigungen zu korrelieren.
Das Team im Verbundvorhaben ist interdisziplinär aufgestellt. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Wir mussten zu Beginn eine gemeinsame Sprache entwickeln. Wir kommen aus unterschiedlichen Disziplinen, aus der Elektrotechnik, dem Maschinenbau und Bauingenieurwesen, der Verfahrenstechnik, Informatik und der Biologie. Es ist sehr spannend und herausfordernd zugleich, da wir unterschiedliche Blickwinkel haben und entsprechend unterschiedliche Methoden anwenden. Die Vernetzung steht stark im Fokus, da die Arbeitspakete mehrere der Disziplinen einbinden . Die Versuchsrinne wurde zum Beispiel mit allen Partnern gemeinsam entwickelt. Alle haben ihre Anforderungen definiert und Umsetzungsideen geliefert. Die Anlage wurde dann von den Bauingenieurinnen und -ingenieuren geplant und gebaut, nachdem die Strömung in Simulationen von Maschinenbauerinnen und -bauern überprüft und von den Biologinnen und Biologen für gut befunden wurde.
Gibt es bereits konkrete Pläne für eine nachhaltige Implementierung des Projekts?
Derzeit bereiten wir weitere Verhaltensstudien vor, um zusätzliche Fischarten zu untersuchen. Mithilfe der Sensoren werten wir gemeinsam mit weiteren Partnern Feldstudien aus. Die numerischen Methoden vergleichen wir mit existierenden Studien, um zu sehen, wie gut wir uns der Realität annähern können. Es ist leider schwer, an geeignete Untersuchungsdaten zu kommen. Ein Grund hierfür ist der Schutz des geistigen Eigentums innerhalb der Industrie. Deshalb haben wir entschieden, die RETERO-Ergebnisse zum Projektende auf einem Server der Universität Magdeburg für alle Interessierten frei zugänglich zu machen.
Wir haben zudem erfolgversprechende Kontakte mit den Herstellern von Turbinen und Pumpen Voith GmbH & Co. KGaA und KSB SE & Co. KGaA aufgebaut. Beide Anbieter wollen gemeinsam mit uns untersuchen, wie unsere Methoden in ihre Produktion integriert werden können. Daneben arbeiten wir an einer EU-Anerkennung der Methoden und haben hierfür ein gutes Netzwerk zu Entscheidungsträgern in Deutschland, Frankreich und den UK aufgebaut. Eine Ausgründung aus dem Projekt zur schnellen Implementierung der Ergebnisse in die Praxis ist ebenfalls geplant.
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