Refine: „Wissenschaftlicher Fortschritt kann nur aus dem Diskurs heraus entwickelt werden“
Professorin Dr. Stephanie Krämer von der Justus-Liebig-Universität Gießen berichtet über die bisherigen und aktuellen Entwicklungen im Forschungsfeld Refinement.
Was waren Ihrer Meinung nach im Forschungsfeld „Refine“ wichtige Meilensteine im Sinne des Tierwohls?
Zur Beantwortung dieser Frage würde ich das Rad der Geschichte der Laboratory Animal Sciences ein paar Jahrzehnte zurückdrehen wollen. Mein persönlicher Zugang in die tierbasierte Forschung begann zu einer Zeit als spezifische Sachkundenachweise wie ein „FELASA“-Kurs noch nicht zwingend zu erbringen waren. Die verpflichtende Schulung und Vorbereitung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat definitiv zu einem besseren direkten Umgang mit den Tieren geführt. Als weiteren Meilenstein sehe ich die Notwendigkeit der Umsetzung einer adäquaten Schmerzbehandlung von Versuchstieren. An diesem Thema wird kontinuierlich weitergearbeitet, sodass potenzielle Schmerzen bestmöglich ausgeschaltet werden können. Die Refinement-Forschung nutzt viele Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung. Hierin sehe ich einen weiteren und überaus wichtigen Meilenstein: Wir haben gelernt, dass Mäuse und Ratten keine „Modelle“ sind, sondern fühlende Wesen. Darüber hinaus sind wir ethisch in höchstem Maße dazu verpflichtet, deren Einsatz zur Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen im Sinne des 3R-Konzepts von Russell und Burch sehr kritisch bezüglich der Unerlässlichkeit immer wieder aufs Neue zu hinterfragen.
Was war ein Schlüsselmoment für Sie in Ihrer bisherigen Karriere in Bezug auf die Durchführung von Tierversuchen?
Im Jahr 2010 publizierten Langford et al. Untersuchungen zur Möglichkeit der Belastungseinschätzung bei Mäusen mittels Anwendung eines Grimace Pain Score (Schmerzgesicht). Die Arbeit wurde in Nature Methods veröffentlicht. Das war aus meiner Sicht ein politischer Paukenschlag und suggerierte, dass die Perspektive der am Tierversuch beteiligten Akteure auf das Tier zu verändern sei. Man hatte sich somit auf „Augenhöhe“ mit der Maus zu begeben und das Schmerzausdrucksverhalten anzuerkennen und zu bewerten. Im weiteren Verlauf hat diese Arbeit aus meiner Sicht in hohem Maße zur Etablierung bzw. Verbesserung der sogenannten Score Sheets beigetragen, also einer Art von Frage- bzw. Aufzeichnungsbogen, der zur Erfassung von Abweichungen vom Wohlbefinden der Tiere während der laufenden Untersuchungen zu führen ist.
Was hat sich bei den Haltungsbedingungen von Versuchstieren in den letzten zehn Jahren verbessert?
Aufgrund der wachsenden Erkenntnisse zur Biologie der Tiere können wir nicht nur Rückschlüsse auf deren physiologischen Bedarf ziehen (zum Beispiel Futter, Wasser), sondern respektieren auch deren Bedürfnisse. Es gab Zeiten, in denen Mäuse beispielsweise umfänglich bedarfsdeckend gehalten wurden, aber die Notwendigkeit der Bereitstellung von Nistmaterial nicht praktiziert wurde. Heute ist es quasi undenkbar, Mäuse ohne Nistbaumaterialien zu halten. Vergleichbares gilt für alle anderen Tiere. Das Stichwort lautet Enrichment, also Anreicherung der Haltungsumwelt durch Materialien (Environmental Enrichment) oder Sozialpartner (Social Enrichment). Heute sind sowohl unter Zucht-, als auch unter Versuchsbedingungen, die genannten Enrichment-Maßnahmen, aber auch zunehmend kognitives Enrichment tierartspezifisch zwingend zu berücksichtigen.
Wo sehen Sie derzeit den größten Verbesserungsbedarf?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Den größten Verbesserungsbedarf sehe ich in der Umsetzung des Replacements in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Das 3R-Konzept verlangt von den beteiligten Akteuren vor der Durchführung eines jeden Versuchsvorhabens in einen Abwägungsprozess (zu erwartender Erkenntnisgewinn vs. zu erwartendes Tierleid) zu gehen. Die erste Frage in diesem Kontext gilt dem Ersatz von Versuchstieren durch „nichtfühlende“ Technologien. Die Beantwortung dieser Frage darf dabei nicht zu einer Routine werden, die mit einem „Nein“ zu einem Alternativverfahren abgetan wird, auch wenn sich möglicherweise ein „Tiermodell“ historisch bewährt hat. Es gilt stets, den wissenschaftlichen Fortschritt hinsichtlich der Etablierung geeigneter Ergänzungs- und Ersatzmethoden zu berücksichtigen und diese „neuen Methoden“ in der gegebenen wissenschaftlichen Infrastruktur zu etablieren. Dies geschieht nicht ohne Aufwand. Vor diesem Hintergrund können bereits einige Forschungseinrichtungen auf sogenannte Core Facilities verweisen, die beispielweise Organoide für die jeweiligen Fragestellungen entwickeln.
Womit befasst sich das von Ihnen geleitete 3R-Zentrum ICAR3R?
ICAR3R hat einen Schwerpunkt in der 3R-Education. Wir möchten vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs für den verantwortungsvollen Umgang mit der Thematik „Tierversuch“ sensibilisieren. Es ist schwierig, wenn man am Anfang einer wissenschaftlichen Karriere steht, die komplexen Abläufe in der biomedizinischen Grundlagenforschung zu überblicken. Die wissenschaftlichen Themenstellungen lassen sich dabei noch am ehesten durch die Literatur erfassen. Der richtige Umgang mit dem Versuchstier erfordert jedoch profunde Erfahrungen. Es bedarf intensiver praktischer Schulungen. Nur weil die Maus kleiner ist als ein Hund oder ein Affe, heißt das nicht, dass der Umgang ein Leichterer ist, sollen Mäuse doch gerade die Komplexität des menschlichen Organismus modellieren.
Was möchten Sie als Leiterin des 3R-Zentrums dem wissenschaftlichen Nachwuchs mitgeben?
Aus meiner Sicht kann sich wissenschaftlicher Fortschritt nur aus dem Diskurs heraus entwickeln. Daher ist es notwendig, kritisch zu bleiben. Kritisch hinsichtlich der Notwendigkeit des Einsatzes von Versuchstieren, kritisch gegenüber den vermeintlichen Vorzügen, aber auch kritisch gegenüber den Nachteilen von tierbasierter Forschung. Ein Modell bleibt ein Modell, somit bleibt eine Maus auch eine Maus. Die Ergebnisinterpretation ist nur so gut, wie die Daten, gegen die Vor- und Nachteile des jeweiligen Models abgeglichen werden. Gleichzeitig sollte man sich selbst gegenüber aber offenbleiben. Nicht jede Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler ist zur Durchführung von Tierversuchen geeignet. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein. Diese stets persönliche Entscheidung sollte im Sinne einer Culture of Care respektiert werden.
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