„Die Tötung eines Versuchstieres ist das letzte Mittel“
Tierversuche sind weiterhin notwendig. Doch was passiert mit überzähligen Versuchstieren? Wir sprachen mit Ass. iur. Tobias Wagenknecht vom Bundesinstitut für Risikobewertung über mögliche Instrumente und Alternativen.
Sie sind Mitglied des Nationalen Ausschusses des Tierschutzgesetzes und haben in dieser Tätigkeit Erörterungen zum Vorliegen eines „vernünftigen Grundes“ bei der Tötung überzähliger Versuchstiere verfasst. Können Sie uns einen kurzen Überblick über mögliche Handlungsempfehlungen geben?
Der „vernünftige Grund“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im deutschen Recht nicht genauer definiert und daher durch Auslegung zu ermitteln ist. Gerade in einem komplexen Bereich wie dem Versuchstierrecht ist die Bestimmung nicht einfach. Unsere Publikationen sind eine erste Handlungshilfe, an der sich sowohl wissenschaftlich tätige Personen, Behörden und Tierschutzausschüsse, aber auch die Rechtsprechung orientieren können.
Beginnen wir beim Zuchtmanagement: Eine optimal geplante Zucht kann das Entstehen „überzähliger“ Versuchstiere auf das biologische und wissenschaftlich mögliche Minimum reduzieren und kann den Ausgangspunkt für die Prüfung einer möglichen Tötung dieser Tiere darstellen. Sofern nicht bereits die Entstehung der Tiere verhindert werden kann, sind alternative Maßnahmen zur Tötung zu prüfen. Die Versuchstiere könnten beispielsweise für andere wissenschaftliche Zwecke innerhalb der Einrichtung selbst oder durch externe Forschungsgruppen verwendet werden. Ist dies auch nicht möglich, sollte die Vermittlung an Privatpersonen in Betracht gezogen werden. Auch die Verfütterung von „überzähligen“ Versuchstieren an andere Tiere ist grundsätzlich eine sinnvolle Alternative, um weiteres Tierleid in einer gesonderten Futtertiererzeugung zu vermeiden. Derzeit ist jedoch umstritten, ob das Verfüttern als vernünftiger Grund im Sinne des Gesetzes angesehen werden kann.
Ebenfalls in Betracht gezogen werden sollte die Haltung von „überzähligen“ Tieren bis an ihr natürliches Lebensende. Solche „Altersheime“ für Tiere stoßen aber an ihre Grenzen, wenn die Kapazitäten erschöpft sind und die Forschung zum Erliegen kommen würde. Erst dann kann die Tötung von einzelnen „überzähligen“ Versuchstieren erwogen werden. Letztendlich bleibt die Tötung jedoch eine Entscheidung im Einzelfall. Maßgeblich ist der für die jeweiligen Rechtsfragen zugrundeliegende Sachverhalt. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Tötung eines Versuchstieres ist das letzte Mittel. Zuvor müssen fortlaufend und ernsthaft alle in Betracht kommenden Alternativen geprüft werden. Hier ist eine gute Dokumentation besonders wichtig.
Wer ist Ihrer Meinung nach dafür zuständig diese Handlungsempfehlungen umzusetzen?
Die Empfehlungen sollten von den Versuchstiereinrichtungen selbst angepasst und umgesetzt werden. So macht es für die Umsetzung der einzelnen Maßnahmen einen entscheidenden Unterschied, wie groß die Haltungskapazität der Einrichtung ist, um welche Tierart es sich handelt oder ob die Tiere genetisch modifiziert sind. Zudem sollte sich jede Einrichtung, jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler mit dem Thema auseinandersetzen. Eine hauseigene Vorgehensweise zum Umgang mit „überzähligen“ Tieren wäre ein wichtiger Anfang.
Die deutsche Gesetzgebung ist in Bezug auf das Vorhandensein eines „vernünftigen Grundes“ nahezu einzigartig. Für wie fortschrittlich halten Sie die aktuelle Gesetzgebung im Zuge transformativer Gesellschaftsprozesse?
Der vernünftige Grund ist ein gutes rechtsstaatliches Instrument, um Grundrechte wie den Tierschutz und die Forschungsfreiheit auszugleichen. Lebenssachverhalte und gesellschaftliche Wertevorstellungen können sich ändern. Durch die Begriffsoffenheit kann darauf entsprechend reagiert werden. Die Auslegung des vernünftigen Grundes für den Einzelfall bietet zudem die Möglichkeit, ethische Aspekte und wissenschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Dies hat zuletzt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seines Urteils zum Verbot des Tötens männlicher Eintagsküken verdeutlicht. Aber nicht nur Deutschland stellt gesetzliche Anforderungen an den tierschutzgerechten Umgang mit Tieren. Auch andere EU-Mitgliedstaaten haben vergleichbare Regelungen. So hat Österreich ebenfalls den vernünftigen Grund in seinem nationalen Tierschutzrecht. Auch in Luxemburg und Italien fordert das Gesetz, dass Tieren keine Schmerzen, Schäden und kein Leid zugefügt werden dürfen, wenn es nicht erforderlich bzw. notwendig ist („sans nécessité“ bzw. „senza necessità“). Damit wird ein ebenso hoher Maßstab an den Umgang mit Tieren gesetzt wie in Deutschland. Grundsätzlich können auch in anderen Mitgliedstaaten strafrechtliche Konsequenzen drohen, sollte nicht gesetzeskonform mit Tieren umgegangen werden.
Viele Ihrer Ausführungen beziehen sich auf Wildtyptiere, dabei sind nach Angaben der Versuchstierstatistiken etwa 50 Prozent aller Versuchstiere genetisch verändert. Wie stellt sich hier die Rechtslage dar?
Die Ausführungen des Nationalen Ausschusses beziehen sich gleichermaßen auf genetisch veränderte als auch auf Wildtyptiere. Aufgrund ihres potenziellen Risikos für die Umwelt können allerdings nicht alle alternativen Maßnahmen gleichsam für genetisch veränderte Tiere angewendet werden. So sind der privaten Vermittlung, aber auch der Verfütterung von genetisch veränderten Tieren derzeit rechtliche Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, dass aufgrund der genetischen Veränderung bei diesen Tieren Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten können, die eine frühe Tötung erfordern. Auch hier ist wieder der Einzelfall maßgeblich.
Aktuell herrscht vielerorts Verunsicherung, was die bestmögliche Vorgehensweise ist. Welche Schritte empfehlen Sie und an wen können sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine Beratung wenden?
Wir empfehlen, dass sich Einrichtungen eigene Standardanweisungen erarbeiten und diese fortlaufend evaluieren. Hilfestellungen bieten unsere Empfehlungen, aber auch der fachliche Austausch auf Tagungen und bei Vorträgen. Entscheidend ist, transparent mit der Thematik umzugehen und gegebenenfalls bei Zweifelsfragen den Austausch mit der zuständigen Behörde zu suchen. Neben den rechtlichen Aspekten müssen sich besonders die tierexperimentell tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch zum ethischen Umgang mit „überzähligen“ Versuchstieren Gedanken machen. Dies sollte auch im Austausch mit den Tierschutzbeauftragten und Tierschutzausschüssen der jeweiligen Einrichtung erfolgen.
Weiterführende Informationen:
I. Chmielewska/Bert/Grune/Hensel/Schönfelder, Der „vernünftige Grund” zur Tötung von überzähligen Tieren. Eine klassische Frage des Tierschutzrechts im Kontext der biomedizinischen Forschung, Natur und Recht (NuR) 37, 677-682 (2015). https://doi.org/10.1007/s10357-015-2903-9
II. Wagenknecht/Eusemann/Schwedhelm/Schönfelder/Bert, Die Tötung überzähliger Versuchstiere –das Erfordernis des „vernünftigen Grundes” und die Übertragung aktueller Rechtsprechung auf den Versuchstierbereich, Natur und Recht (NuR) 45, 22-30 (2023). https://doi.org/10.1007/s10357-022-4102-9
III. Wagenknecht/Eusemann/Schwedhelm/Schönfelder/Bert, Das Vorliegen des „vernünftigen Grundes“ bei der Tötung überzähliger Versuchstiere, Natur und Recht (NuR) 45, 225-233 (2023). https://doi.org/10.1007/s10357-022-4103-8
V. Empfehlung Nr. 003/2020 des Nationalen Ausschuss TierSchG vom 19.06.2020, Verwendung von genetisch veränderten Versuchstieren zu Futterzwecken, https://doi.org/10.17590/20201105-135651
Anmerkung der Redaktion: Im Interview wird die Meinung des Autors wiedergegeben, nicht die Position des BMBF.
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