Dr. Özlem Vural forscht und arbeitet aus Leidenschaft an komplexen in-vitro Systemen. Im Beitrag gibt sie persönliche Einblicke in ihren beruflichen Werdegang von den ersten Berührungen mit der Zellbiologie bis zu ihrer heutigen Tätigkeit als Expertin für mikrophysiologische Systeme bei der Bayer AG.
„Schon als Grundschülerin war ich von der Zellbiologie begeistert. Mithilfe eines Kindermikroskops betrachtete ich Zwiebelhaut und Insektenzellen aus nächster Nähe“, erinnert sich Dr. Vural. Die Faszination darüber, wie ausgeklügelt und angepasst die Natur Zellen, Gewebe und Organe formt, begleitet sie seitdem.
Im Studium fokussierte sie sich auf das Fachgebiet Medizinische Biotechnologie und war Teil einer Arbeitsgruppe, die sich mit menschlichen 3D-Organmodellen und Organ-on-a-Chip-Methoden befasste. Eine Ausgründung dieser Arbeitsgruppe ist die TissUse GmbH, ein Biotechnologieunternehmen, das Organs-on-a-Chip entwickelt.
Basisarbeit zum ersten 3D-Modell der menschlichen Schilddrüse
Bei Literaturrecherchen fiel Dr. Vural auf, dass die Schilddrüse sehr selten im Labor nachgestellt wird. „Für mich war das unverständlich. Immerhin ist sie ein wichtiges Organ, das die Schilddrüsenhormone T3 und T4 (L-Thyroxin) produziert und damit unser gesamtes Wohlbefinden, unser Herz-Kreislauf-System und viele andere Organe reguliert.“
Deshalb befasste sie sich in ihrer Doktorarbeit mit der Entwicklung eines 3D-Modells der Schilddrüse, das aus menschlichen Schilddrüsenzellen besteht – mit Erfolg. „Ich bin stolz, dass meine Forschungsarbeit zum Thema Schilddrüse als Basis für weitere erfolgreiche Zusammenarbeiten meiner Kolleginnen und Kollegen bei TissUse und anderen Industriepartnern genutzt werden konnte“, erläutert Dr. Vural. Auf Basis ihrer Arbeit konnte ein in-vitro Modell der menschlichen Schilddrüse entwickelt werden, das gemeinsam mit einer Mini-Leber oder auch einem Hautmodell auf einer Organ-on-a-Chip-Plattform kultiviert und als Medikamenten-Testsystem genutzt werden kann.
Expertin für mikrophysiologische Systeme in der präklinischen Entwicklung
Motiviert von ihrer Leidenschaft, zelluläre Abläufe und Funktionen besser zu verstehen, wechselte sie vom akademischen Bereich zur Bayer AG. Dort beschäftigt sie sich vorwiegend mit der Untersuchung neuer Arzneimittel in der präklinischen Phase. Alle neuen Wirkstoffkandidaten müssen präklinisch charakterisiert und beispielsweise auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit getestet werden, bevor sie erstmals im Rahmen einer klinischen Studie im Menschen angewendet werden dürfen. Dr. Vural arbeitet an neuartigen Methoden, mit denen unerwünschte (toxische) Wirkungen bereits während der Wirkstoffentwicklung identifiziert werden können, um frühzeitig mögliche gesundheitliche Risiken für Probanden und Patientinnen und Patienten zu vermeiden. Mit der Nutzung von menschlichen 3D Organmodellen im Labor sind hohe Erwartungen an eine gute Vorhersagbarkeit der Ergebnisse für den Menschen verbunden. „Mein persönliches Ziel war es immer, etwas Sinnvolles zu tun, das im besten Fall vielen Menschen helfen kann. Meine Arbeit ist vielleicht ein kleiner Beitrag von vielen, aber es ist sehr erfüllend zu wissen, dass man seinen Zielen jeden Tag einen Schritt näherkommt: der tierversuchsfreien Forschung mit innovativen Technologien und der Entwicklung neuer Arzneimittel, die sehr vielen kranken Menschen helfen können“, rekapituliert sie.
Leber und Darm als komplexe Zellmodelle
Sie und ihr Team nutzen vor allem komplexe 3D-Organmodelle, die die funktionale Einheit eines Organs in sehr kleinem Maßstab im Mikrometerbereich (ca. 0,3 mm Durchmesser bei Lebersphäroiden) in vitro abbilden können. Die Leber ist ein zentrales Stoffwechselorgan und spielt eine zentrale Rolle beim Abbau sowie der Ausscheidung von Arzneimitteln. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die Leber zu den Organen zählt, die gehäuft von schädigenden Wirkungen bei der Arzneimittelentwicklung betroffen sind. Deshalb erhält die Leber besondere Aufmerksamkeit in der präklinischen Testung. Aber natürlich können auch viele andere Organe in unserem Körper von unerwünschten Effekten betroffen sein, für die Dr. Vural zusammen mit ihrem Team und vielen Kolleginnen und Kollegen innerhalb der internationalen wissenschaftlichen Community ständig an der Entwicklung neuer in-vitro Modelle arbeitet. Bei ihrer Arbeit kommen neben den 3D Organmodellen auch verschiedene Organ-on-a-Chip-Systeme zum Einsatz, die es erlauben, ein oder mehrere der komplexen Organmodelle in einer mikrofluidischen Umgebung zu kultivieren. Beispielsweise kann ein Darmmodell durch Mikrokanäle, durch die ein Nährmedium fließt, mit Lebersphäroiden verbunden werden. Mit der Hilfe von angeschlossenen kleinen Pumpen kann das Nährmedium und die Testsubstanz durch die Mikrokanäle zwischen den Kompartimenten, in denen die Organmodelle eingebettet sind, fließen. Dieser Aufbau ähnelt somit unserem Blutkreislauf und ermöglicht eine erste Annäherung an die orale Wirkstoffaufnahme sowie den Fremdstoffmetabolismus der Leber: Ein Wirkstoff wird dem Darmmodell verabreicht, dort absorbiert, erreicht über den Kreislauf die Leber und wird dort verstoffwechselt. So können relevante Eigenschaften der potenziellen Wirkstoffe nachgestellt und untersucht werden, beispielsweise wie schnell sie die Darmwand passieren und ob eine entsprechende Dosierung zu unerwünschten (toxischen) Wirkungen im Darm oder in der Leber führen.
Komplexe Modelle: Chance für die Reduzierung von Tierversuchen?
Komplexe in-vitro Modelle und Systeme werden sehr aktiv sowohl in der akademischen Forschung als auch in der pharmazeutischen Industrie erforscht, jedoch können aktuell noch keine verlässlichen Vorhersagen zur Sicherheit und Wirksamkeit von neuen Wirkstoffen getätigt werden. Sehr viele Forschende entwickeln deshalb tatkräftig bessere Organmodelle und (experimentelle) Methoden, sodass in Zukunft komplexe Zellmodelle und Organ-on-a-Chip Plattformen in die Anwendung gelangen können. „In vielen Fällen reicht bereits heute der „gesunde“ Lebersphäroid aus, um mögliche unerwünschte Wirkungen, wie die direkte Zellschädigung, in der Leber testen zu können“, erklärt sie. Dennoch können diese Modelle noch nicht die komplexe Physiologie des menschlichen Organismus in ihrer Gesamtheit abbilden. Bedarf sieht Dr. Vural vor allem in Bezug auf in-vitro Abbildungen des Immunsystems, des Hormonsystems oder des zentralen Nervensystems. Alle drei Systeme spielen sehr wichtige Rollen in verschiedensten (patho-)physiologischen Prozessen. Das Immunsystem wehrt beispielsweise nicht nur Infektionen ab, sondern moduliert auch, wie der Körper auf einen Infekt oder aber auf Medikamente reagiert. Das ist wichtig in der Entwicklung von neuen Immuntherapien für Krebspatientinnen und -patienten. Deshalb wird auch vermehrt in diesem Bereich an innovativen Methoden geforscht. Genauso arbeiten Forschende an verschiedensten pathophysiologischen 3D-Organmodellen, um Krankheiten einerseits besser zu verstehen und um entsprechend bessere Therapien zu entwickeln. „Komplexe in-vitro-Modelle und Organ-on-a-Chip-Systeme haben das Potenzial, in Zukunft frühzeitig zuverlässige und robuste Vorhersagen zur Verträglichkeit und Wirkung neuer Arzneimittel zu treffen, Tierversuche zu reduzieren und gleichzeitig die Zeit sowie die Kosten der Arzneimittelentwicklung zu minimieren“, so Dr. Vural abschließend.
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