Veterinärmedizinische Praxis oder Stammzellforschung? Prof. Dr. Bettina Seeger hatte die Wahl zwischen spannenden Karrierewegen. Wofür sie sich entschied und wie es dazu kam, lesen Sie im Beitrag.
Ursprünglich wollte Prof. Seeger Pferdetierärztin werden. Damals prophezeite ihre Mutter: „Vielleicht landest du ja in der Forschung.“ Sie sollte Recht behalten. Im Studium ergriff Prof. Seeger der Forschergeist: Getrieben von der Neugier, komplexe biologische Zusammenhänge zu entschlüsseln, begeisterte sie sich insbesondere für das Nervensystem und seine Reaktionen auf Umwelteinflüsse und Krankheiten.
Von der Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln zur Arbeit mit Stammzellen
Prof. Seegers Weg führte sie von der klassischen Veterinärmedizin zur Innovationsforschung im Bereich der 3R-Methoden. Nach dem Tiermedizinstudium spezialisierte sie sich auf Pharmakologie und Toxikologie. In ihrer Doktorarbeit erforschte sie zunächst die Nutzung tierfreier Methoden zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmittelgemischen. „Als Postdoc wollte ich dann selbst neue Methoden entwickeln. Daher vertiefte ich mich in stammzellbasierte Ansätze, was den Grundstein für meine heutige Forschung legte“, resümiert sie. Seit 2018 gestaltet sie als Juniorprofessorin an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover die 3R-Forschung aktiv mit.
Innovative Anwendung bewährter Konzepte: Adverse Outcome Pathways in der Infektionsbiologie
Prof. Seegers Forschungsschwerpunkt liegt auf der Entwicklung stammzellbasierter Methoden für die Toxikologie, Pharmakologie und Neuroinfektiologie. Mit ihrem Team entwickelt sie Modelle für das Nervensystem, um die Wirkung von Chemikalien und Medikamenten zu untersuchen. Innovativ ist die Übertragung des Adverse Outcome Pathway (AOP)-Konzepts von der Toxikologie auf die Infektionsbiologie. AOPs beschreiben, wie ein auslösendes Ereignis über molekulare und zelluläre Veränderungen zu Krankheitssymptomen führt. Durch die systematische Erfassung dieser Abläufe können Forschende Krankheitsmechanismen besser verstehen. Mehrere zellbasierte Modelle werden verknüpft, um komplexe Krankheiten zu modellieren und tiefere Einblicke in die Wechselwirkungen zwischen Erregern und Organismus zu gewinnen.
Eine Welt zwischen „Minigehirnen“ und Forschungsalltag
Prof. Seeger erinnert sich daran, wie sie zum ersten Mal motorische Neuronen aus menschlichen Stammzellen differenzierte: „Die Technik habe ich am Max-Planck-Institut und an der Uni Münster gelernt – und war gespannt, wie es im eigenen Labor funktionieren würde. Tag für Tag pflegte ich die Zellen und nach einigen Wochen war es soweit: Unter dem Mikroskop zeigten sich die ersten Nervenzellen mit ihren feinen Ausläufern. Dieser Augenblick fühlte sich an wie Magie – und war der Beginn einer neuen Forschungsreise, die mich bis heute fasziniert.“ In ihrem Arbeitsalltag stehen Stammzellen nach wie vor im Mittelpunkt. Prof. Seeger und ihr Team nutzen Modelle wie "Minigehirne", die das sich entwickelnde Gehirn nachbilden, sowie motorische und sensorische Nervenzellen. Diese werden zur Entwicklung neuer Testsysteme für Chemikalien und Medikamente bis hin zur Untersuchung von Infektionskrankheiten eingesetzt.
Abseits vom Labor bestimmen regelmäßige Besprechungen mit ihrem Team oder der Austausch mit internationalen Kolleginnen und Kollegen den Alltag. Ob es um Vorlesungen, die Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden, die Planung neuer Experimente und Projekte geht – jeder Tag bringt für Prof. Seeger neue Herausforderungen, aber auch Ideen und Erkenntnisse.
Komplexität reduzieren und aussagekräftig bleiben
Die größte wissenschaftliche Herausforderung für Prof. Seeger ist es, die Komplexität des menschlichen Nervensystems im Labor nachzubilden und dabei standardisierbare und reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen. Eine besondere Schwierigkeit läge darin, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Zelltypen und Organsystemen zu erfassen. Es erfordere Kreativität und interdisziplinäre Zusammenarbeit, biologische Prozesse in aussagekräftige Labormodelle zu übersetzen. Doch die Anstrengung lohne sich: „Mit menschlichen Zellmodellen können wir oft präziser als mit Tiermodellen vorhersagen, wie Substanzen auf den Menschen wirken – ethisch und wissenschaftlich ein Fortschritt“, erklärt sie. „Allerdings lassen sich komplexe Organinteraktionen und Langzeiteffekte in der Petrischale nur begrenzt nachbilden.“ Zudem stelle die behördliche Akzeptanz neuer Methoden Forschende vor Herausforderungen. „Wir müssen alle vorhandenen Daten nutzen und neue Wege mit den ‚New Approach Methodologies‘ einschlagen“, fordert sie. „Ich bin überzeugt: Diese innovativen, auf menschlichen Zellen basierenden Modelle werden die Zukunft der Forschung prägen.“
In vitro-Modelle, um Entwicklungsstörungen vorzubeugen
Langfristig möchte Prof. Seeger ein integriertes System aus verschiedenen In vitro-Modellen für das Nervensystem entwickeln. Mit diesem will sie die Auswirkungen fötaler Infektionen auf die neuronale Entwicklung untersuchen. Dieser Ansatz zielt darauf ab, neue Erkenntnisse für präventive Behandlungen zu gewinnen, um Entwicklungsstörungen vorzubeugen, die u.a. zu Lernschwierigkeiten oder Autismus-Spektrum-Störungen führen könnten. Diese innovative Methodik verspricht tiefere Einblicke in die komplexen Wechselwirkungen zwischen Infektionserregern und der Entwicklung des Gehirns. „So hoffen wir, in menschlichen Zellen übertragbare Ergebnisse zu erzielen, die für die Arzneimittelentwicklung hochrelevant sind“, resümiert sie.
Welchen Rat möchten Sie dem wissenschaftlichen Nachwuchs mitgeben?
Folgt eurer Neugier und scheut euch nicht, neue und unkonventionelle Wege zu gehen. Gerade in der Forschung rund um die 3R-Prinzipien ist es wichtig, offen für interdisziplinäre Ansätze zu sein und tradierte Denkweisen zu hinterfragen. „Das haben wir immer so gemacht“ ist kein Argument für gute Wissenschaft.
Baut euch ein starkes Netzwerk auf und findet Mentorinnen und Mentoren, die euch inspirieren.
Bleibt resilient – Rückschläge gehören dazu, aber sie bieten oft wertvolle Lernerfahrungen. Innovation erfordert Geduld, Durchhaltevermögen und den Mut, Verantwortung für nachhaltige Lösungen zu übernehmen.
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